Zeitzeugengespräch mit dem ehemaligen GSG9-Mitglied Aribert Martin über den „Deutschen Herbst“ 1977
„Jetzt bloß nicht in die Luft fliegen!“ – Dieser Gedanke schoss dem damals 21-jährigen Aribert Martin durch den Kopf, als er zusammen mit seinen Kollegen der Spezialeinheit GSG9 im Oktober 1977 das von Terroristen entführte Passagierflugzeug „Landshut“ stürmte und die Geiseln befreite.
Eindrucksvoll schilderte Aribert Martin den Klassen F11S2, F11T, F11U und F11W2 am 6. März 2023 seine Erfahrungen aus jenen dramatischen Tagen im Oktober 1977. In dem von Johannes Uschalt von der Landeszentrale für politische Bildung moderierten 90-minütigen Zeitzeugengespräch erhielten die Schülerinnen und Schüler zunächst einen Einblick in die geschichtlichen Hintergründe des Terrorismus durch die linksextremistische Rote Armee Fraktion, bevor Herr Martin seine Erinnerungen an die Befreiung der „Landshut“ mit den knapp 100 Zuhörern teilte. Somit bot die Veranstaltung die seltene Gelegenheit,Informationen über ein Schüsselereignis deutscher Geschichte von einem unmittelbar Beteiligten „hautnah“ zu erfahren.
Im Oktober 1977 entführten vier palästinensische Terroristen die „Landshut“, ein Flugzeug auf dem Weg von Mallorca nach Frankfurt am Main, und nahmen die 86 Passagiere sowie die Besatzung der Maschine als Geiseln. Das Ziel war, mit der Entführung Druck auf die Bundesregierung auszuüben, um inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen. Die Geiselnehmer hatten bei ihrem Vorgehen kein Erbarmen: So wurde beispielsweise das Auftanken der Maschine in Dubai mit der Drohung, eine Geisel zu erschießen, erzwungen. In letzter Sekunde ließ man sich schließlich darauf ein. Der Pilot der „Landshut“, Jürgen Schumann, wurde vor den Augen aller Passagiere per Kopfschuss hingerichtet. Dieser hatte kurz zuvor noch versucht, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Hier erinnerte sich Aribert Martin an die Worte eines dreijährigen Jungen, Steffen, der Zeuge dieses brutalen Mordes geworden war:
 „Dann hat es bumm gemacht und dann ist er umgefallen!“ Diese Brutalität zeigte, dass mit den Entführern nicht zu verhandeln war. Das Flugzeug musste gestürmt werden. Nach einer fünftägigen Odyssee bot sich in Mogadischu (Somalia) die Gelegenheit. Mit dem Vorwand, die Bundesrepublik lasse die inhaftierten RAF-Terroristen frei und würde sie nach Mogadischu fliegen, wurden die Terroristen abgelenkt. So konnte sich die GSG 9, welche der „Landshut“ bereits seit Tagen folgte, auf 2 km nähern und sich, aufgeteilt auf 6 Trupps zu je 5 Mann, unbemerkt von hinten an das Flugzeug heranschleichen. „Man hätte eine Stecknadel fallen hören können“, so Martin, aber die GSG 9 war gut auf derartige Szenarien geschult. Der Plan war, mitten in der Nacht auf das Kommando „Feuerzauber“ hin gleichzeitig über die sechs Ausgänge in das Flugzeug einzudringen. Mit dem Zünden von Blendgranaten auf dem Rollfeld sorgte man für einen Überraschungsmoment unmittelbar vor dem Zugriff. Aribert Martin war als „zweiter Mann“ an der Tür hinten rechts positioniert und stürmte in die Maschine, nachdem sein Kollege die Tür aufgehebelt hatte. Niemand hatte jedoch Informationen darüber, was sich im Inneren des Flugzeugs wirklich abspielte. „Ich wusste nur, wer den anderen zuerst sieht, gewinnt. Mit Terroristen kann man nicht reden oder verhandeln,“ erinnert sich Aribert Martin zurück. Doch nicht nur hinsichtlich der Reaktion der Geiselnehmer auf die Stürmung herrschte Unklarheit. Auch deren Position im Flugzeug war nicht bekannt. Als Martin in das Flugzeug stürmte, sah er um sich herum nur Geiseln. Aus dem vorderen Teil der Maschine hörte er aber Schüsse. Der Zeitzeuge ergänzte: „Als Erstes stieß mir ein unglaublicher Gestank entgegen. Die Terroristen ließen die Geiseln nicht auf die Toilette gehen, sodass die Pass agiere ihr Geschäft auf ihren Plätzen verrichten mussten. Und das schon 5 Tage lang. Diesen Gestank hatte ich jahrelang in der Nase.“ In unmittelbarer Nähe von Herrn Martin explodierte zudem eine Handgranate, die ihn glücklicherweise nicht verletzte. Innerhalb von nur wenigen Minuten wurden die Entführer „ausgeschaltet“. Einer der Terroristen war unmittelbar vor Aribert Martin mit mehreren Schüssen getroffen worden und lag in seinen letzten Zügen. „Er war in etwa so alt wie ich. Da spürte ich für einen kurzen Moment so etwas wie Mitleid.“ Zwei weitere Terroristen wurden bei der Befreiung der Geiseln getötet, eine Terroristin überlebte schwer verletzt. Alle Geiseln überlebten hingegen zum Glück die Entführung. Aribert Martin selbst musste nicht von seiner Waffe Gebrauch machen.
Die Dimension des Einsatzes wurde Aribert Martin erst auf dem Rückflug bewusst. Ein Kollege hatte einen Halsdurchschuss erlitten. Auch eine Flugbegleiterin wurde verletzt. Zudem traf er auf traumatisierte Passagiere wie den dreijährigen Steffen, die fünf Tage lang unter dem Joch ihrer Entführer gelitten hatten. Eine psychologische Betreuung für die Opfer oder die beteiligten Kräfte gab es jedoch nicht.
Die Zuhörer lauschten den Ausführungen von Aribert Martin bis zum Schluss mit großem Interesse und stellten abschließend eine Vielzahl an Fragen an den Referenten, der ihnen mit auf den Weg gab, sich selbst etwas zuzutrauen und auch den Mut zu haben, unangenehme Entscheidungen zu treffen. Zum ersten Mal wurde vielen bewusst, was die Entführung der „Landshut“ wirklich für die Geiseln bedeutete und wie wichtig es damals wie heute ist, unsere Demokratie um jeden Preis zu verteidigen.

Christina Ertl

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